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Praxisbeispiel | Kultursensible Angebote
Brückenbauen zwischen den Kulturen

Piktogramm: Ein Karton, aus dem ein Pfeil, eine Glühbirne und ein Stern herausspringen

Die Netzwerkarbeit in Berlin Mitte – mit Knotenpunkt des Gerontopsychiatrischen Zentrums (GPZ) der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus (PUK Charité im SHK) – hat in den letzten Jahren gleich zwei neue Perspektiven eröffnet.

Nun wurden nicht „nur“ die Angehörigen, sondern Betroffene im frühen und mittleren Krankheitsstadium mit ins Boot geholt. Zudem hat das GPZ mit einer kultursensiblen Brückenbauerin und den richtigen Methoden auch ältere Menschen mit Migrationserfahrung erreichen können. „Bei unserer Arbeit haben wir meistens die (mit-)belasteten Angehörigen im Blick“, berichtet Mechthild Niemann-Mirmehdi, Leiterin der Therapeutischen Dienste in der PUK Charité im SHK. „Die von einer Demenzerkrankung Betroffenen selbst werden eher selten direkt angesprochen und angehört. “Wir haben für einen Perspektivenwechsel erstmals in unserer Region Menschen mit einer Demenzerkrankung, Angehörige sowie Gesundheitsexpertinnen und Gesundheitsexperten gemeinsam zu Veranstaltungen eingeladen. So wurden in einem „World Café“ und einer Fachtagung primär die Wahrnehmungen und Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt gestellt. Es war für alle Beteiligten eine Bereicherung. Infolgedessen hat das GPZ in Kooperation mit der Volkshochschule Berlin Mitte über viele Semester hinweg ein Trialog-Seminar „Mit einer dementiellen Erkrankung leben" angeboten. Auch wurde das jeweilige Erfahrungswissen der drei oben genannten Zielgruppen miteinander ausgetauscht. Richtungsweisend war hier die Perspektive der Betroffenen.

„Nicht stimmig erschien es uns, dass wir mit keiner unserer Initiativen Personen erreicht haben mit nicht-deutschsprachigem Kulturhintergrund, obwohl in Berlin Mitte ein sehr hoher Bevölkerungsanteil mit Migrationserfahrung lebt. Wir beschlossen, Vertreterinnen und Vertreter dieser Personengruppen aufzusuchen und diese zu befragen, woran das liegen könnte“, erklärt Projektleiterin Mechthild Niemann-Mirmehdi.

Da in Berlin Mitte die größte Gruppe der Einwanderinnen und Einwanderer (meist aus Gastarbeiterfamilien) gebürtig aus der Türkei kommt, haben sich die Netzwerkerinnen und Netzwerker in einer zweiten Projektphase darauf konzentriert, zunächst zu dieser Zielgruppe Kontakt aufzunehmen. Mit Hilfe der Fördergelder konnte eine türkischsprachige Ethnologin als Minijobberin für das Netzwerkteam gewonnen werden. Ohne sie wäre ein Zugang nicht möglich gewesen. Durch ihre Kontaktaufnahmen haben Kultureinrichtungen und Moscheen das Projektteam offen empfangen. Ihr Interesse an einer Zusammenarbeit war groß. So hat z.B. ein Vorsitzender eines Moschee-Vereins den Weg zu Frauengruppen der Gemeinde geebnet. Sogleich wurde das Team gastfreundlich zu Frühstückstreffen und Gesprächsrunden eingeladen. Hier kamen Frauen, teils mit ihren Kindern, aus vier Generationen zusammen, berufstätige und nicht berufstätige aus allen Bildungsschichten.

Der Bedarf am Austausch, an sozialer Beratung und Informationen über psychische Erkrankungen erwies sich als sehr hoch. Bevor wir uns mit ihnen über ihre Erfahrungen zum Thema Demenz ausgetauscht haben, haben wir zunächst die häufigsten Krankheitsbilder im Alter, wie Demenzerkrankungen und Depressionen, deren Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten vorgestellt und besprochen“, so Niemann-Mirmehdi. „Dank der Übersetzung und Vermittlung der türkischsprachigen Kollegin entstand eine sehr schöne, nahezu ungezwungene Gesprächsatmosphäre unter uns Frauen. So erfuhren wir, dass sich Menschen mit einer demenziellen Erkrankung und ihre Familien mit türkischen Sozialisationen hinsichtlich ihrer Sorgen, Nöte und Wünsche gar nicht so sehr von jenen mit deutscher Sozialisation unterscheiden“. Deutlich wurde jedoch, dass sich Familien mit Kulturhintergrund aus der Türkei, ähnlich wie einheimische Familien (nicht nur) vergangener Generationen auch, verantwortlich sehen, ihre kranken und pflegeabhängigen Familienmitglieder bestenfalls ausschließlich innerhalb und seitens der Familie zu versorgen. Zugleich war ihnen sehr wohl bewusst, dass das für sie unter den hiesigen Lebens- und Arbeitsbedingungen zunehmend schwieriger bzw. kaum noch realisierbar werden würde. Die für sie selbstverständliche familiäre Verantwortung wurde, neben Sprachproblemen, Informationsmangel, Angst vor Stigmatisierung, Fremdbestimmung und Erfahrungen mit „Überheblichkeit“ und „Abwertung“ seitens professionell helfenden Menschen, als einer der wesentlichen Gründe genannt, Institutionen aufzusuchen und vorhandene Gesundheits- und Sozialleistungsangebote sowie Leistungsansprüche nicht oder nur in äußerster Not in Anspruch zu nehmen. Ein geäußerter Wunsch war eine betreute Wohngemeinschaft in der Moschee-Gemeinde, in welcher die zu Betreuenden vor allem selbst mitwirken und sich auch gegenseitig noch helfen können.

Da Sprach- und Kulturunterschiede häufig zu fataler Fehldiagnostik und Fehl-Behandlung führen können, wird im Berliner GPZ der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus inzwischen eine kultursensible Diagnostik und Behandlung für Menschen mit einer Demenz sowie für Menschen mit anderen psychischen Erkrankungen aufgebaut. Hierbei hat sich das GPZ-Team von dem Centrum für Neuropsychologische Diagnostik und Intervention (CeNDI) inspirieren lassen. Es macht sich die von der CeNDI Arbeitsgruppe Demenz, insbesondere die für türkischsstämmige Menschen entwickelten, überwiegend sprachfreien Diagnostikinstrumente mit Bildern aus kultur- und religionsspezifischen Alltags- und Lebenswelten zu eigen.

Frau Niemann-Mirmehdi fasst ihre Erfahrungen zusammen: „Ohne sprachkompetente Brückenbauerinnen und Brückenbauer, welche Menschen aus anderen Kulturen, gleich welcher Religion, auf Augenhöhe mit Respekt begegnen, ihnen zuhören und ihre Lebenswelten und Bedarfe wertfrei vermitteln, geht es nicht!“ Wollen die in unserem Sozial- und Gesundheitssystem Tätigen jene Mittbürgerinnen und Mitbürger mit Migrationserfahrung erreichen, die bislang nicht partizipieren können, müssen wir auf sie zugehen, interessiert, verbindlich, kontinuierlich. Eine Bereicherung für alle Beteiligten“.

Träger
Gerontopsychiatrisches Zentrum – Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus
Große Hamburger Straße 5-11
10115 Berlin

Kontakt
Mechthild Niemann-Mirmehdi
Telefon: 030-2311- 2908
E-Mail: m.niemann-mirmehdi@charite.de

Projektstart 2013